Der letzte Sonnenfunke

»Ist dir eigentlich klar, was für ein verdammtes Glück du hast?«

Tighan O’Brannick schüttelte den Kopf. Eine Strähne schwarzbraunen, leicht gewellten Haares löste sich aus dem im Nacken zusammengebundenen Zopf und fiel ihm ins Gesicht. Er schnaubte ungehalten, als sie in seinem ordentlich gestutzten, dunklen Vollbart hängen blieb und ihn an der Wange kitzelte. Tighan hasste sein langes Haar und er hasste diesen elenden Bart. Es war ihm egal, wenn andere so was trugen. Sollten sie doch herumlaufen wie sie wollten. Damit hatte er nun wirklich kein Problem. Womit er allerdings eines hatte, war er selbst. Dass er für seine Verhältnisse ziemlich verlottert aussah, war notwendig. Nur bedeutete das noch lange nicht, dass es ihm auch gefiel.

Begleitet von einem missmutigen Brummen strich er die aufdringliche Haarsträhne hinters Ohr und rückte das offen auf seinem Schoß liegende Tagebuch zurecht. Mit dem Ende seines Stiftes tippte er ein paar Mal auf das Papier, dann zuckte er die Schultern und widmete sich wieder seiner Zeichnung. Sanftes Kratzen durchdrang die staubige Luft, wobei ein Lächeln über Tighans Gesicht huschte. Wie das Zeichnen gehörte dieser Stift zu den wenigen Dingen, die er liebte. Aber nicht nur deshalb hütete er ihn wie seinen Augapfel. Das gute Stück bestand aus gepresstem Graphit, und schon ein einzelner dieser Stifte war unsagbar teuer. O’Brannick gehörten sechs davon. Sie waren das Mitbringsel einer langen Reise, die er sich zum Zeitpunkt ihres Antritts ebenso wenig gewünscht hatte, wie die seinen Kopf verunstaltende Haarpracht.

Es lag Jahre zurück, dass Tighan auf einem Marktplatz mit Tusche und Feder Portraits fertigen musste, um seine gähnend leere Geldkatze aufzufüllen. Einer seiner ersten Kunden war ein alter Alchemist gewesen. Nach getaner Arbeit hatte der Mann sich das Bild unter den Arm ge-klemmt und O’Brannick ein Stoffbündel in die Hand gedrückt. Er erinnerte sich noch gut daran, was der Alte zu ihm sagte, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand: ›Ein außerordentlicher Dienst bedarf außerordentlicher Gegenleistung.‹ Damals war Tighan weder die Zeit geblieben, sich für das Bündel zu bedanken, noch hatte er die Gelegenheit bekommen, den für seine Leistung vereinbarten Preis einzufordern. Entsprechend schwer wogen Verwirrung und Ärger. Bald erkannte er jedoch, dass das Geschenk des Alchemisten für ihn wesentlich größeren Wert besaß als ein paar schnöde Münzen. Nie zuvor war ihm ein Zeichengerät in die Finger geraten, mit dem er so schnell und sauber arbeiten konnte. Fortan war er jeden Abend mit einem prall gefüllten Geldsäckchen nach Hause gegangen.

 »Lass mich raten«, sagte Tighan. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich meine. Richtig?«

 Erwartungsvoll schaute er auf. Ein wissendes Funkeln machte sich in seinen stahlgrauen Augen breit, als er die über dem Fußende seines Bettes sitzende Spinne betrachtete. Sie war so groß wie seine Hand. Roter, dichter Flaum bedeckte den voluminösen Hinterleib des Tieres. Dessen lange, kräftige Beine trugen locker verteilte Haare derselben Farbe, während sich der abgeflachte, runde Vorderkörper nackt und schwarz präsentierte. Mit ihren acht hinter den imposanten Beißklauen prangenden Augen erwiderte die sogenannte Rote Weberin Tighans Blick und drehte sich ein wenig nach rechts.

›Nein.‹

»Wusste ich’s doch«, schmunzelte er. »Alles andere hätte mich auch gewundert.«

Die Spinne hob die Vorderbeine  und schwenkte sie sachte auf und ab. Dabei schien der durch das Fenster hereinfallende Lichtstrahl den Pelz des Tieres in einen Schauer dunkelroten Blutnebels zu verwandeln. Ein faszinierender Anblick, der in der Vergangenheit sicherlich einer Menge Insekten zum Verhängnis geworden war.

Ungeachtet ihres Namens spann die Rote Weberin für den Beutefang keine Netze, sondern ging auf die Jagd. Das sich bei Bewegung an ihren Haaren brechende Licht lockte das begehrte Opfer an ‒ tja, und dann Lebewohl Gevatter. Abseits der Nahrungssuche glänzte ihre Art dagegen mit perfektionierter Feigheit. Kreuzte etwas den Weg einer Weberin, das größer war als sie selbst, ergriff sie die Flucht. Nicht so jedoch bei Tighan, der das Privileg einer besonders intensiven Verbundenheit zur Tierwelt genoss. Neben einer noch weitaus eindrucksvolleren Fähigkeit war besagte Gabe seit jeher ein fester Bestandteil seines Daseins. Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte waren andere aufgrund derselben Talente bitter zur Kasse gebeten worden. O’Brannicks Rechnung stand aber bis heute offen, und er setzte alles daran, dass es dabei blieb. Schließlich bezahlt niemand gerne mit seinem Leben.

»Wenn du willst, kann ich es dir erklären«, schlug er vor. »Hat was mit Seelen zu tun. Wie ihr Tiere eure bekommt und wie das Ganze mittlerweile bei uns Menschen abläuft.«

Die Spinne zuckte ein Stück nach rechts. ›Kein Bedarf.‹

Auch diesmal wusste Tighan ihre Reaktion richtig zu deuten. »Du scheinst nicht von der redseligen Sorte zu sein, was?«

Ihre Antwort bestand aus einer leichten Linksdrehung. ›Gut erkannt.‹

O’Brannick nickte verstehend. Er beschloss, den Mund zu halten, und konzentrierte sich wieder auf seine Zeichnung. Inzwischen waren auf dem Blatt vier Beine und der halbe Oberkörper der Roten Weberin zu erkennen. Er war gut vorangekommen und hegte die Hoffnung, das Bild fertigzustellen, bevor das Tier die Lust verlor oder ein vorüberkrabbelnder Käfer alles verdarb. Außerdem war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Freund und Zimmergenosse Ira O’Mally der in ihrer Unterkunft vorherrschenden Ruhe ein jähes Ende bereiten würde.

Inzwischen lag der Weckruf für die Tagesschicht eine halbe Stunde zurück, und Ira war unmittelbar nach dem Klopfen des Weckburschen zur morgendlichen Aufgabenverteilung gegangen. Als Vorsteher ihrer Jägerloge hielt er es für seine heilige Pflicht, dort einer der Ersten zu sein, der einen gut bezahlten Auftrag ergatterte. Deshalb war es ihm zur Gewohnheit geworden, die Bettwärme schon lange vor der üblichen Weckzeit aufzugeben und sich so früh wie möglich auf den Weg zu machen. Entsprechend zeitig kehrte er zurück. Für O’Brannick ein Grund mehr, sich zu beeilen.

Während er zeichnete, blendete Tighan die Welt um sich herum allmählich aus. Zuerst verblasste das Zimmer samt der spärlichen, aus zwei Betten, einem einfachen Tisch mit zwei Stühlen und zwei schmalen Kleiderschränken bestehenden Einrichtung. Danach stahlen sich die auf der Etage befindlichen Flure und Räume aus seiner Wahrnehmung, die sich hinter der Zimmertür erstreckten. Ihnen folgte das mehrgeschossige Haus, in dem er und Ira wohnten. Dasselbe galt für den Rest des vier weitere Häuser gleicher Bauart zählenden Komplexes, der den Fiagi jer Scáth von Mar-Dinye zur Verfügung stand. Eben jener Gemeinschaft, die die Bürger des Landes Rokhanos vor den Übergriffen fleischgewordener Schatten beschützte und der Tighan seit nunmehr acht Jahren angehörte.

Am Ende vergaß er sogar das. Er schob beiseite, warum er sein Gesicht hinter einem Übermaß an Haaren versteckte. Er verdrängte den Grund, weshalb er seit einer gefühlten Ewigkeit ständig fingerlose Lederhandschuhe trug und mit Ausnahme von Ira gegenüber jedem Menschen den Namen ›Gusvig Jones‹ für sich verwendete. Er dachte nicht mehr daran, dass er vierundsiebzig Lenze zählte, dass er aussah, als wäre er nicht älter als Ende dreißig, und dass er noch immer die körperliche und geistige Verfassung eines etwa zwanzigjährigen Burschen aufwies. All das trieb weit von ihm fort. Für eine Weile gab es nur noch die Rote Weberin, sein Tagebuch, den Graphitstift und ihn.

Als O’Brannick sein Bild mit den letzten Feinheiten versehen hatte und den Stift beiseitelegte, fühlte er sich wie aus einem Traum erwacht. Wie lange hatte er hier gesessen? Eine Stunde? Zwei? Einen Tag? Im ersten Moment hätte er die Frage unmöglich beantworten können, so sehr hatte ihn seine Arbeit gefesselt. Allerdings wusste er aus Erfahrung, dass er für eine kleine Zeichnung wie diese kaum eine Viertelstunde brauchte. Ein Seufzen glitt über Tighans Lippen, während sein Geist viel zu schnell wieder aufklarte. Er hatte die Realität nicht vermisst und wäre ihr gerne noch länger ferngeblieben. Bevor ihn jedoch trübe Gedanken heimsuchten konnten, polterte Ira O’Mally ins Zimmer. Er war sechsunddreißig Jahre jünger, einen knappen Kopf kleiner und von muskulöserer Statur als der drahtig gebaute Tighan. Unter seinem kinnlangen, ständig zerzausten rotbraunen Haarschopf blitzten wachsame, hellgrüne Augen hervor und auf seiner linken Halsseite erstreckte sich eine doppelt fingerlange Narbe. Sie war ein Andenken an Iras erste Begegnung mit einem Scáth. In der Hand hielt O’Mally ein notdürftig wieder zusammengerolltes Pergament, mit dem er Tighan grinsend zuwinkte. Dabei brach ein Stück des unter dem Text aufgedrückten Wachssiegels ab und fiel zu Boden.

Das Siegel war nicht gelb für Wachdienst auf den Feldern. Oder rot für die Eskorte von Boten oder irgendwem sonst in eine der anderen Königsstädte. Auch nicht grün für Patrouillengänge in einem der drei umliegenden Dörfer oder weiß für sonstige anfallende Arbeiten.

Nein, dieses Siegel war blau.

Das bedeutete, O’Mally hatte einen Auftrag für die Jagd auf einen speziellen Scáth mitgebracht.

»Bald platzen unsere Geldkatzen aus allen Nähten, Tigs«, verkündete er feierlich, nur um beim nächsten Atemzug zu erstarren, den Blick fest auf die Wand vor Tighans Bett geheftet. »Bei Gevatter Tods Pisspott!«

»Ich wage zu bezweifeln, dass er so was jemals gebraucht hat«, gab O’Brannick lachend zurück. Sein Einwand wurde geflissentlich ignoriert.

»Wehe du sagst mir jetzt, du hast das Spinnenvieh da noch nicht gesehen!«, rief Ira aus. Er wich einen Schritt zurück und klammerte die freie Hand fest genug um den Türknauf, dass er bei der ersten falschen Bewegung abzubrechen drohte. »Das Ding ist so groß wie ein Teller, verflucht!«

»Ein kleiner Teller.«

»Also hast du sie gesehen!«

»Aye, hab ich.« Lächelnd hielt Tighan sein Tagebuch hoch und präsentierte die aufgeschlagene Seite. »Ich hab sie sogar gezeichnet.«

»Mach das beschissene Buch zu, sonst muss ich kotzen«, stöhnte Ira, der noch blasser um die Nase wurde, als es ohnehin der Fall war. Dann verfiel er ins Jammern. »Acht daumendicke Beine. Und so riesig wie der Deckel von ‘nem Weinfass. Mann, Tigs, du weißt ganz genau, wie ich diese ekelhaften Biester hasse.«

»Mhm«, grinste O’Brannick.

Er betrachtete die reglos auf ihrem Platz hockende Rote Weberin und hob verwundert eine Augenbraue. Sie hätte verschwinden sollen, sobald Ira die Tür aufriss. Aber das Tier war immer noch da. Tighan konnte nicht anders, als der Sache auf den Grund zu gehen. Er rutschte ans Ende seines Bettes und streckte die Hand aus.

»Er fasst es an«, murmelte O’Mally entgeistert. »Bei allem, was ein Mann in die Finger bekommen kann, fasst er ausgerechnet eine Spinne an. Warum geb ich mich eigentlich immer nur mit Verrückten ab?«

»Weil es außer denen kein anderer länger als einen halben Tag in deiner Nähe aushält?«, schlug O’Brannick vor.

Ohne auf eine Antwort zu warten, berührte er den glatten Vorderkörper der Roten Weberin, worauf das Tier wie ein Stein herunterfiel. Begleitet von einem dumpfen Geräusch schlug es auf dem hölzernen Fußboden auf. Ein Blick in Iras Richtung zeigte, dass er einen Satz rückwärts gemacht hatte und nun auf dem Flur stand. Tighan verkniff sich eine passende Bemerkung, obwohl ihm gleich mehrere eingefallen wären. Stattdessen gab er sich mit einem amüsierten Schmunzeln zufrieden, sprang vom Bett und holte die Spinne darunter hervor.

»Tja«, sagte er und betrachtete sie interessiert. Hier hatte das Schicksal überraschend schnell zugeschlagen. »Die ist ziemlich tot, würde ich meinen.«

»Wenn du mich verscheißerst, erschlag ich dich mit deinen dämlichen Stiften«, brummte O’Mally aus sicherer Entfernung.

»Da steht ein Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken einen Scáth nach dem nächsten erledigt. Aber im Angesicht einer toten Spinne kneift er die Hinterbacken zusammen«, lachte Tighan. Dann setzte er eine versöhnliche Miene auf. »Die rührt sich nicht mehr, Ira. Ehrlich.«

»Der Sonne Gnade sei Dank.« Erleichtert deutete O’Mally zum Fenster. »Wenn du mich glücklich machen willst, wirf das Ding raus.«

»Ich finde, heutzutage sollte man nichts verkommen lassen.«

»Was bitte?«

»Flint«, erklärte O’Brannick. »Der freut sich doch immer über einen Leckerbissen. Ähm ... Wo steckt er überhaupt?«

»Wo soll der um die Zeit schon sein?«

»Unten in der Küche?«

Ira nickte, während er abermals das Pergament schwenkte. »Was hältst du davon, wenn wir uns ein ordentliches Frühstück genehmigen, während wir den Auftrag besprechen?«

Dem Vorschlag konnte Tighan eine Menge abgewinnen. Nachdem er sein Tagebuch versteckt hatte, machten sich die Freunde auf den Weg. Die tote, in ein Tuch gewickelte Rote Weberin nahm O’Brannick in der Hosentasche mit.

Die Nacht der Herbstwende

»He, Arkjen! Bist du tot?« 

Als das unnachgiebige Hämmern an seiner Zimmertür wieder einsetzte, wünschte sich Arkjen Vargos, er wäre es. Der Stadtvorstand hatte ihm die seltene Ehre von drei Ruhetagen gewährt. Um deren Beginn zu feiern, hatte er am vergangenen Abend in der Kopflosen Ente ziemlich tief in den Weinbecher geschaut. Vielleicht sogar in ein ganzes Fass, wenn er genauer darüber nachdachte. Entsprechend rachsüchtig erwies sich der ihn plagende Kater. Dass Vargos nach der Sperrstunde um Mitternacht eine Dirne mit auf sein Zimmer genommen und sie erst gegen Morgengrauen fortgeschickt hatte, machte die Sache nicht besser. Dasselbe galt für das durch die zugezogenen Vorhänge schimmernde Sonnenlicht. Seiner rotgoldenen Farbe nach zu urteilen, konnte er kaum mehr als vier Stunden geschlafen haben. 

»Arkjen? Arkjen!«

Der Erzgezeichnete stöhnte leise auf und langte über die Bettkante. Seine Finger mussten nicht lange suchen, bis sie den Rand eines seiner Stiefel berührten. Verlässliches, altes Schuhwerk. Egal, wie eilig er es hatte, aus den Kleidern zu steigen, die Stiefel standen immer griffbereit neben seiner Schlafstatt. Bereits einen Atemzug später flog der Linke von ihnen durch den Raum und traf krachend die Tür. 

»Verschwinde!«

Zwei Herzschläge lang herrschte Ruhe. Aber der Kerl auf dem Flur dachte nicht daran, aufzugeben.

»Mann, ich bin’s. Marik«, ertönte es versöhnlich hinter dem rotbraunen Holz. 

»Ich weiß!« Polternd schlug der rechte Stiefel gegen die Pforte. »Verschwinde!«

»Hör mal, ich muss gleich zum Wachdienst an die Quelle. Wenn mein Hauptmann rausfindet, dass ich nicht rechtzeitig da war, kann ich mich auf was gefasst machen.« 

»Ich bin dein Hauptmann!«, ächzte Vargos, gab sich geschlagen und stemmte sich in die Höhe.

Schwindel wogte hinter seiner Stirn, sobald er die Füße auf den Boden stellte, und sein Magen fühlte sich an, als hätte er Gelbkäfersäure statt Wein getrunken. Trotzdem musste er schmunzeln. Er mochte zwar ihr Hauptmann sein, aber er war dennoch ein stinknormaler Kerl. Also durften seine Dreißig auch so mit ihm umspringen. Vorausgesetzt, sie stellten seine Befehle nicht infrage und wahrten Disziplin im Dienst. Pünktlich zur Quellwacht anzutreten, gehörte freilich dazu. Da lag Marik Kantra vollkommen richtig.

»Wie spät ist es?«, fragte der Erzgezeichnete, wobei er sich behutsam von der Bettkante erhob. 

»Das morgendliche Siebenfeuer ist fast runtergebrannt.«

Arkjen seufzte gequält. Erstens war Marik wirklich spät dran. Zweitens plagte ihn ein Kater von der Größenordnung eines ausgewachsenen Graslandrinds. Um den loszuwerden, war das bisschen Schlaf, das er genossen hatte, eindeutig zu wenig. Leise murrend wickelte er sich eines der zerwühlten Laken um die Hüfte, schlurfte zur Tür und öffnete sie.

»Tatsächlich. Nicht tot.« Grinsend schlug Kantra dem Erzgezeichneten auf die nackte Schulter.

Bedachte man sein Alter von neununddreißig Jahren, sah Marik immer noch unverschämt gut aus. Er trug seine Quellwächtertracht bestehend aus einem ärmellosen, weißen Hemd, einer scharlachroten Toga und schlichten Sandalen. Das markante, glattrasierte Gesicht trübte kein einziges Fältchen, und das nussbraune, strubbelig kurze Haar war frei von jeglichem Grau.

Eine Woge des Neides suchte Vargos heim. Er kannte diesen Mann seit siebenundzwanzig Jahren. Fünf davon als Lehrling, vier als Quellwächter in einer anderen Truppe, und den Rest als Mitglied der Dreißig. Abgesehen von der wachsenden Zahl der seine Haut zierenden Glyphen, hatte Kantra sich während dieser Zeit kaum verändert. Ganz im Gegensatz zu Arkjen. Ihm sah man seine einundfünfzig Jahre deutlich an.

»Ja, ich lebe noch. Du kannst mich mal«, winkte er missmutig ab. »Ich hab drei Ruhetage, schon vergessen? Was willst du?« 

»Erde und Orâ.« Marik zog eine angewiderte Grimasse und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Du stinkst wie die Sümpfe bei den Himmelsklippen. Was hast du gestern Abend gemacht?«

»Nichts, was meinen Geduldsfaden länger werden lässt«, knurrte Arkjen.

Er spähte zu beiden Seiten an dem Quellwächter vorbei, der seinen Blick richtig deutete. 

»Sim und Tarsin halten den Kutscher für mich auf«, sagte er. »Weißt du, ich hab’s echt eilig. Und denk an meinen Hauptmann.«

»Der ist nicht derjenige, der um den heißen Brei herumtanzt. Also?« 

»Der Stadtvorstand will dich sehen.«

»Warum?«

Kantra zuckte mit den Schultern. »Hat man mir nicht gesagt.« 

»War ja klar. Und wann?«

»Sofort. Vor dem Haus wartet ein Schwebwagen auf dich.«

Arkjen stöhnte auf. »Geister der Jenseitswelt, was hab ich für eine Wahl. Wenn der Stadtvorstand ruft, muss man ihm folgen. Egal, wie viel man letzte Nacht gesoffen hat.« 

»Scheint so«, befand Marik, dessen Schmunzeln eine gewisse Schadenfreude offenbarte. 

»Sonst noch was?«

»Nein, das war alles.«

Der Erzgezeichnete nickte resignierend. »Tja, dann sag dem Fahrer, er soll noch ein bisschen Geduld aufbringen, bis ich runterkomme.« 

»Mach ich.« Kantra grinste frech. »Unter einer Bedingung. Du legst bei meinem Hauptmann ein gutes Wort für mich ein.«

In einer scherzhaften Drohgebärde hob Arkjen die Hand. »Hau bloß ab, du verdammter Drecksack.«

Marik salutierte mit zwei Fingern, machte kehrt und eilte davon. Gähnend warf Vargos die Tür ins Schloss und tappte zur Zimmermitte. Die Entscheidung zwischen dem Waschtisch zu seiner Linken und dem Bett zu seiner Rechten fiel ihm schwer. Schlussendlich begab er sich jedoch zu der Keramikschale, die auf einem mit Handtüchern bestückten Holzgestell thronte. Vargos schaute in den darüber an der Wand befestigten Spiegel. Was er sah, gefiel ihm nicht besonders. 

Das Gesicht, das ihm entgegenstarrte, wirkte faltig und verhärmt. Die hellgrünen Augen lagen tief aber wenigstens wachsam in ihren Höhlen. Zahllose hellgraue Bartstoppeln machten sich bemerkbar. Das kurze, ehemals aschblonde und mittlerweile von schmutziggrauen Strähnen durchzogene Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Neun Glyphen auf seiner Haut ‒ vier auf dem rechten Arm, drei auf dem linken, zwei auf der Brust ‒ glommen in gedämpftem, dunklem Rot. Die zehnte, auf seiner rechten Schläfe sitzende Glyphe leuchtete einige Nuancen heller als die anderen. Er trug das von vielen auch als ›Todesmal‹ betitelte Zeichen, das ihn zum Erzgezeichneten gemacht hatte, seit nunmehr sechs Jahren und damit länger als die meisten seiner Zunft vor ihm. 

Den überwiegenden Teil der Erzgezeichneten raffte der Erdatem zwischen dem ersten und dem vierten Jahr dahin; je nachdem, wie zurückhaltend sie nach dem Erscheinen der zehnten Glyphe mit ihren magischen Fähigkeiten umgingen. 

Vargos hatte in besagten sechs Jahren nichts an seinem Verhalten geändert. Er nutzte den Erdatem, wenn ihm der Sinn danach stand oder die Umstände es erforderlich machten. Über die Konsequenzen dachte er dabei nicht lange nach. 

Trotzdem war er immer noch hier.

»Wenigstens siehst du nur halb so beschissen aus, wenn du am Abend vorher nüchtern geblieben bist«, brummte er seinem Spiegelbild zu. 

Arkjen glitt ein unwilliges Seufzen über die Lippen. Dann warf er das Laken aufs Bett, öffnete Vorhang und Fenster und machte sich an die Arbeit. 

Ein zielgerichteter Gedanke reichte aus, um die einst von ihm gewirkte Schale durch das Fenster verschwinden zu lassen. Mit frischem Wasser gefüllt kehrte sie wieder zurück, worauf er unter Einsatz von Rasierzeug den Bartstoppeln an den Kragen ging. Anschließend setzte er seinem müden Leib mit einer ordentlichen Portion kaltem Nass und Seife zu und rubbelte sich mit einem seiner selbst erschaffenen Handtücher trocken. Die entstandene Sauerei auf dem Boden beseitigte er, indem er das benutzte Handtuch hinwarf, den Fuß darauf stellte und damit über die Dielen wischte. Ein weiterer Gedanke sorgte dafür, dass sich das schmutzige Tuch in Luft auflöste, während er mit den Fingern sein feuchtes Haar in Form strich. Zuletzt benutzte Arkjen eine aus Minzwasser und Nelkenöl hergestellte Mundspülung, die seine Zähne pflegte. Dem schalen Geschmack auf der Zunge hatte die Flüssigkeit allerdings wenig entgegenzusetzen. Dennoch entlockte ihm der neuerliche Blick in den Spiegel ein schiefes Grinsen. Obwohl er weiterhin verkatert wirkte, konnte er sich an ähnliche Tage erinnern, an denen er wesentlich schlechter ausgesehen hatte. 

Ein Frösteln durchfuhr den Erzgezeichneten und rief ihm ins Gedächtnis, dass er wohl kaum nackt vor die Tür gehen wollte. Die auf den einzigen im Raum vorhandenen Stuhl geworfene Quellwächtertracht ließ er unbeachtet. Vielmehr erleichterte er den linker Hand des Waschtischs aufragenden Kleiderschrank um saubere Unterkleidung, ein kurzärmeliges, sandfarbenes Hemd sowie eine schwarze Lederhose und schlüpfte hinein. Danach folgten die Stiefel und ein dünner Mantel aus kastanienfarbenem Glattleder, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbeugen aufkrempelte. Vargos mochte weiß die Herrin kein Angeber sein. Aber die Gelegenheit, einige seiner Glyphen zur Schau zu stellen, hatte er noch nie ausgelassen.

 

Fantasy made im Ruhrgebiet

 

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